Zwischenwelten

Unbeschwert wollte ich mich einst den Bildern eines Orientalen annähern und prallte gegen eine westliche Fassade. Konkrete Bildmittel hielten mich an der schillernden Oberfläche, ich orientierte mich an pythagoreischen Leitplanken und versuchte einen Durchblick ins Morgenland zu gewinnen. Doch David Kandalkar, der Inder, verwehrte mir den Zugang zum Osten und malte mir gekonnte Fugen in verhaltenen Farben vor. Vielleicht bildeten diese streng durchkomponierten Satzarten seine eigenen Leitplanken, als er Ende der Sechziger Jahre Tel Aviv verliess, um sich in England zu etablieren. Möglich auch, dass David Kandalkar, der Engländer, sich durch rationale Kontrapunkte von seinem dadaistischen Mentor Marcel Janco ablösen wollte.

Später, als ich nur noch den Konstruktivisten im Orientalen sah und seinem strengen, bildnerischen Satzbau folgte, hörte ich in den Sehpausen plötzlich die warmen Klänge der Tablas vor dem Gateway of India. Ich erwischte in den regengrauen Winterfarben einen leuchtenden, safrangelben Zipfel. Der Duft von Curry und Patschuli, David Kandalkars Sinneserinnerungen an seine Kindheit in Bombay, vermischten sich mit dem Geruch seiner Players Nr. 6.

Da ich Indien entdeckte, glaubte ich im Werk von David Kandalkar, dem Juden, auch mosaische Botschaften entschlüsseln zu können. Ich suchte nach Bildern seiner bilderlosen, strenggläubigen Erziehung. So wie ich aus seinem Werk die leisen Tablas hörte, horchte ich sie nach hebräischen Tempelgesängen ab. Doch David Kandalkar, der Überkonfessionelle, hat sie verstummen lassen und die Haggadah mit vielen Farbschichten übermalt. Was jedoch immer wieder durchbricht, ist die Sonne Israels, das trunkene Himmelblau Galiläas, die verbrannte Erde des Kinderdorfes Meir Shefeya, die selbstbewussten Lieder der Hadassah, die gleissend gelben Dünen der Negev-Wüste. Gelb – die Farbe, mit der sich David Kandalkar gefühlsmässig so schwertut und die er vielleicht gerade deshalb immer wieder zu starken Gestik kompositionell einsetzt, durchtränkt das Klima selbst dann, wenn es nur spärlich aufgetragen ist.

Nachdem ich mit David Kandalkar, dem Maler, den Weg von der Schweiz über England und Israel nach Indien zurückschritt, glaubte ich, seine Sehnsüchte lesen zu können. Doch er entzog mir den Schlüssel, indem er eine Bildserie mit organischen, amorphen Bildinhalten schuf. Sein Rückzug in einen wundersamen Mikrokosmos hatte etwas Psychodelisches – er schoss mir tanzende Pantoffel- und Sonnentierchen unter die Gehirnrinde und liess subtile Riesenamoeben explodieren. David Kandalkar, der Theaterkünstler aus Haifa und Tel Aviv, baute seine mikroskopische Bühne mit Liebe und Akribie auf – er malte, kritzelte und tupfte seine zellulären Gebilde in einer eigenen Öl-Tusch-Manier und griff dabei auf Werkzeuge und Techniken zurück, die er in den Ateliers eines Moshe Mokadi oder Johanan Simon erprobte.

Ich verwundere mich nicht, dass David Kandalkar, der Weltbürger, heute über verschiedene Gateways an ein Ziel kommt, wo sich seine Zwischenwelten vernetzten. Das Tablaspiel der Strassenmusikanten und die Fuge harmonieren. Die orientalische Sinnlichkeit wird mit rationalen Bildmitteln – manchmal sind es Gitter, manchmal diagonal oder horizontal gesetzte Balken – in Schach gehalten. Die vegetativen Formen seiner Gebilde werden Teil einer durchgestalteten Landschaft. In diesem Spannungsfeld von Gefühl und Vernunft schreitet der Künstler die Dimension der Zeit ab. Ein freier, breiter Pinselstrich durchkreuzt immer wieder seine Bildergärten. Diese Gestik eines Metronoms hebt die Zeitlosigkeit auf. Oder ist es seine innere Pendelbewegung zwischen Gefühl und Ratio?

Vor mir öffnet sich ein Triptychon – das Schlüsselbild zu David Kandalkars malerischer Synthese. Aus dem tiefen Schwarz fallen mir gewichtige Farben entgegen. Der Acrylauftrag verliert, dank der subtilen Pinselführung und raffinierten Spritztechnik, das ihm sonst anhaftende Kunststoffartige und scheint durch Poren zu atmen. Ein eigenartiges Farbklima beherrscht den unergründlichen Bildaltar. Der rechte Seitenflügel nimmt die Komposition des linken Flügels auf, doch die Spiegelung ist weniger geometrisch denn stimmungsmässig. Die einzelnen Schichten ergeben eine gestaffelte Tiefenwirkung, als seien die übereinanderliegenden Zwischenwelten durch imaginäre Filter abgegrenzt. Und über das Ganze tickt die Zeit in einer spiralförmigen Dynamik.

Manchmal erleichtert uns David Kandalkar, der Zweifler, die Sicht auf zurückgelassene Zwischenwelten. Er lässt den Betrachter durch ein kleines Objektiv blicken, das freischwebend auf der Bildfläche steht, und fokussiert abgelegte Formenvokabeln. Neben dem Objektiv steht vielfach ein quadratisches Fenster; doch der Ausblick ist trübe, das Zurückgelassene verbleicht zur vagen Erinnerung.

David Kandalkar, der Wahrheitssuchende, wird auch diese Welt wieder verlassen und neue Zwischenwelten erkunden. «Abstrakte Kunst entsteht aus dem eigentlichen Verschwinden des Erkennbaren» erklärt er mir – wohl wissend, dass es hinter dem Erkennbaren niemals nur eine Wahrheit gibt.

Yves Schumacher